Empfehlung zur HIV-Sekundärprävention: Spätdiagnosen
Stand: 20. Juni 2017
Analog zu den deutschlandweiten Berechnungen des Robert Koch-Institutes (RKI) ist anzunehmen, dass in Nordrhein-Westfalen rund 50 Prozent der HIV-Erstdiagnosen als sogenannte Spätdiagnosen (mit einer CD4-Zellzahl <350 Zellen/μl) erfolgen. Das RKI schätzt für NRW darüber hinaus, dass 2015 etwa 33 Prozent der Menschen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose bereits einen fortgeschrittenen Immundefekt (klinisches AIDS oder CD4-Zellzahl <200 Zellen/μl) aufweisen.
Wissenschaftlich gilt es als eindeutig nachgewiesen, dass Menschen mit HIV von einer frühzeitigen antiretrovirale Therapie wesentliche Vorteile haben:
- Das Risiko schwerwiegender Erkrankungen sinkt deutlich.
- Ebenso verringert sich die Sterblichkeit erheblich.
- Unter einer frühzeitigen Behandlung kommt es zudem seltener zu einer Reihe von schweren bakteriellen Infektionen.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW den Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention, ihre Aktivitäten in den Feldern Information, Beratung, Test und Behandlung so auszurichten, dass die Anzahl der Spätdiagnosen gesenkt werden kann.
Die gesamte Empfehlung mit allen Literaturangaben finden Sie hier (PDF).
Im Folgenden finden Sie die einzelnen Unterpunkte im Detail.
Nach Schätzungen des Robert Koch-Institutes (RKI) lebten Ende 2015 in Nordrhein-Westfalen ca. 18.400 Menschen mit HIV/AIDS; etwa 15 Prozent war ihre HIV-Infektion zu diesem Zeitpunkt unbekannt.
Bei schätzungsweise 880 Menschen wurde 2015 eine HIV-Erstdiagnose gestellt. Analog zu den deutschlandweiten Berechnungen ist anzunehmen, dass auch in NRW rund 50 Prozent der Erstdiagnosen mit einer CD4-Zellzahl <350 Zellen/μl als sogenannte Spätdiagnosen erfolgten. Das RKI schätzt für Nordrhein-Westfalen darüber hinaus, dass etwa 38 Prozent der 880 Menschen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose bereits einen fortgeschrittenen Immundefekt (klinisches AIDS oder CD4-Zellzahl <200 Zellen/μl) aufwiesen.
Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der START-Studie gilt es als nachgewiesen, dass Menschen mit HIV von einer frühzeitigen antiretrovirale Therapie wesentliche Vorteile haben:
- Das Risiko schwerwiegender Erkrankungen sinkt deutlich.
- Ebenso verringert sich die Sterblichkeit erheblich.
- Neuesten Studienergebnissen nach kommt es unter einer frühzeitigen Behandlung zudem seltener zu einer Reihe von schweren bakteriellen Infektionen.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW den Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention, ihre Aktivitäten in den Feldern Information, Beratung, Test und Behandlung so auszurichten, dass die Anzahl der Spätdiagnosen gesenkt werden kann. Die Empfehlungen basieren auf der gesellschaftlichen Lernstrategie, die Individuen, soziale Gruppen und Institutionen durch Wissens- und Kompetenzvermittlung in die Lage versetzt selbstverantwortlich zu entscheiden, und Präventionsbotschaften formuliert, die Menschen mit HIV nicht diskriminieren.
Leitgedanken der Empfehlung sind
- Zugangsbarrieren zum HIV-Test und zu der gegebenenfalls nachfolgenden Behandlung abzubauen und
- die Zahl der sogenannten "verpassten Chancen" (sog. missed opportunities) zum HIV-Test im medi-zinischen Kontext zu reduzieren
Die geltenden Standards für den HIV-Test sind dabei gleichwohl einzuhalten:
- Möglichkeit der Inanspruchnahme anonymer und kostenloser Testangebote
- Qualitätsgesicherte Beratung
- Freiwilligkeit der Durchführung
- Korrekte Testdurchführung
- Vertraulichkeit
- Anbindung an Angebote zur Prävention, Behandlung und Versorgung
Eine Vielzahl von Faktoren kann den Diagnosezeitpunkt von HIV beeinflussen.
Wichtige Motive, ein HIV-Test-Angebot zu selten oder gar nicht wahrzunehmen, sind:
- Verdrängung der möglichen eigenen Infektion aufgrund von Angst vor angenommenen Folgen
- Abwehr von Betroffenheit im Hinblick auf HIV aufgrund stigmatisierender Vorstellungen sowohl von der Infektion als auch von den von HIV besonders betroffenen Gruppen
- Fehlende Identität als Teil besonders betroffener Gruppen
- Fehlendes Bewusstsein über das eingegangene Risiko
- Kein Krankheitsgefühl/keine Symptome sowie kein oder ein zu geringes Wissen über Symptome
- Angst vor mit einem möglichen positiven Testergebnis verbundenen Coming Out
- Sorgen wegen mangelnder Vertraulichkeit
- Angst vor Peinlichkeit
- Befürchtung von Belehrungen
- Angst, dabei über das eigene sexuelle Verhalten sprechen zu müssen
Wichtige Hintergründe, einen HIV-Test im medizinischen Setting zu selten oder gar nicht angeboten zu bekommen, sind:
- HIV-bedingte Symptome, Indikatorerkrankungen und opportunistische Infektionen, mit denen sich Patient*innen vorstellen, werden nicht als HIV-bedingt erkannt
- HIV-bedingte Symptome, Indikatorerkrankungen und opportunistische Infektionen, mit denen sich Patient*innen vorstellen, werden aufgrund der (vermeintlichen) Nicht-Zugehörigkeit der Patient*innen zu einer von HIV besonders betroffenen Gruppen als solche ignoriert
- Ein höheres Alter sowie ein heterosexueller Übertragungsweg oder ein Übertragungsweg im Ausland haben darüber hinaus Einfluss auf das Angebot eines HIV-Tests. Zum Faktor Geschlecht sind die Forschungsergebnisse uneinheitlich.
- Hemmungen der Ärzt*innen und des weiteren medizinischen Fachpersonals, Themen rund um die Sexualität anzusprechen
Wichtige weitere Faktoren und strukturelle Barrieren, die Spätdiagnosen begünstigen, sind:
- Migrationsassoziierte Faktoren (z.B. Sprachbarrieren durch fehlende Angebote der Sprach- und Kul-turmittlung, eingeschränkte Behandlungsmöglichkeiten, fehlende Krankenversicherung, Stigmatisie-rung und Rassismuserfahrung)
- Begrenzte finanzielle Möglichkeiten (z.B. Finanzierung von Fahrtkosten aus dem ländlichen Raum zu spezialisierten Behandlungseinrichtungen)
- Ländlicher Wohnort (schlechterer Zugang zu niedrigschwelligen Angeboten)
- Geringerer sozialer Status
- Geringere Bildung
Für die Analyse der Situation in einer definierten Region bieten sich mehrere Fragenkomplexe an:
- Wie schätzen Sie die einzelnen Bereiche in der Kette Information - Beratung - Test - Behandlung in Ihrer Region ein? Ist die Verknüpfung der Bereiche ausreichend?
- Welche Gruppen sollten besser erreicht werden? (Relevante Zielgruppen mit besonderem Risiko (schwule Männer und andere Männer, die Sex mit Männern haben, drogengebrauchende Menschen, Menschen aus Hochprävalenzländern, Partner*innen von Menschen mit besonderem Risiko |Menschen aus der Allgemeinbevölkerung)
Grundsätzlich ist es gleichwohl hilfreich, regelmäßig alle Bevölkerungsteile in die Strategie einzubeziehen, da die konkrete Ansprache einzelner Teilgruppen von anderen als Signal verstanden werden kann, nicht betroffen zu sein.
- Welches Ziel soll erreicht werden? (Ungetesteten Menschen mit besonderem Risiko den Zugang zum Test ermöglichen |Zu selten getesteten Menschen mit besonderem Risiko einen verbesserten Zugang zum Test ermöglichen |Menschen mit HIV-bedingten Symptomen, Indikatorerkrankungen und opportunistischen Infektionen einen frühzeitigen Zugang zum Test ermöglichen |Verbesserung der grundsätzlichen Rahmenbedingungen (z.B. Abbau von Stigmatisierung bezogen auf HIV, Homosexualität und Migration | Förderung von Sprach-und Kulturmittlung | Förderung von Kompetenzen zur Kommunikation über Sexualität)
Zu den Feldern "Information - Beratung - Test - Behandlung" empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW folgenden Aspekten besonders zu beachten:
Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit genutzte Informationsmedien sollten daraufhin überprüft werden,
- ob sie ein aktuelles und realistisches Bild vom Leben mit HIV vermitteln
- ob sie den Nutzen einer frühzeitigen Therapie deutlich genug herauszustellen
Die Unterstützung verhältnispräventiver Maßnahmen, die den Abbau von Stigmatisierung und Diskrimi-nierung bezogen auf HIV, sexuelle Orientierung und Identität, Drogenkonsum sowie bezogen auf Migration zum Ziel haben, bleibt weiterhin wichtig.
Folgende Herangehensweisen können den Zugang zu Beratung und Test verbessern:
- Verdeutlichung des Angebotes einer vorurteilsfreien Beratung für relevante Zielgruppen auch im Rahmen allgemeiner Beratungs- und Testangebote
- Unterstützung der Vielfalt der Angebote, auch und besonders im niedrigschwelligen Bereich
- Informationsangebot über alle nächstgelegenen qualitätsgesicherten Beratungs- und Test-Angebote in der Region
- Information der Nutzer*innen des eigenen Beratungs- und Test-Angebotes über Angebote der Prä-vention, inklusive der Angebote in Nachbarstädten und -kreisen
- Verdeutlichung der Wichtigkeit der regelmäßigen Wahrnehmung des Beratungs- und Testangebotes in den relevanten Zielgruppen
- Nutzung von Kampagnen, die eine allgemeine Aufmerksamkeit fördern, wie z.B. die jährliche Europäische HIV-Hepatitis-Testwoche oder der Welt-AIDS-Tag
- Bildung von Kooperationen mit Trägern anderer Angebote für relevante Zielgruppen
- Vor der Intensivierung des Beratungs- und Testangebotes für eine definierte Zielgruppe: Klärung der Weiterleitungsmöglichkeit in die gegebenenfalls notwendige Behandlung
- Förderung der Fortbildung in der hausärztlichen Versorgung, insbesondere durch die Nutzung des Fortbildungsprojektes "HIV/STI-Prävention und Beratung in der Arztpraxis" der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG), der Deutschen AIDS-Hilfe, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä), der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG) sowie dem Kompetenznetz HIV/AIDS
Um den Zugang zur Behandlung zu verbessern, sollte der Austausch und die Vernetzung der regionalen Angebote von Beratung, Testung und Behandlung gefördert und die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit vorangetrieben werden.
Bei Unklarheiten bezüglich der Kostenübernahme der Behandlung stehen die vom Land NRW eingerichteten Clearingstellen zur Gesundheitsversorgung für Zuwandernde in Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Köln und Münster unterstützend zur Verfügung.
Um den Zugang zu Beratung und Test zu verbessern, empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW die Transparenz der vorhandenen qualitätsgesicherten Beratungs- sowie Beratungs- und Testangebote zu erhöhen. Eine gemeinsame Darstellung aller Angebote im Land sollte um die bundesweiten Angebote der Telefon-, Email- und Onlineberatung ergänzt werden.
Im Internet bieten Firmen HIV-Schnelltests mit CE-Prüfzeichen der Europäischen Union für die Anwendung durch Laien an ("Heimtests" oder "Selbsttests"). In Deutschland ist die Abgabe von HIV-Tests an Privatpersonen bisher nicht zulässig; angesichts der besseren Qualität und der einfacheren Handhabung der zur Verfügung stehenden Tests prüft das Bundesministerium für Gesundheit jedoch diese Regelung.
Die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW empfiehlt den Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention, sich entsprechendes Wissen anzueignen, um eventuelle Nutzer*innen vor und nach dem Test kompetent beraten zu können. Zusätzlich sollte zusammen mit den Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention vor Ort ein gemeinsames Vorgehen entwickelt werden, auf welche Weise das Thema Selbsttest in Zukunft in Beratungs- und Präventionsstrategien integriert werden soll.
Um die Zahl der sogenannten "verpassten Chancen" (missed opportunities) im medizinischen Kontext zu reduzieren, bittet die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW die Landeskommission AIDS zu prüfen, ob in Zusammenarbeit mit der Kommission weitere Verbesserungen hinsichtlich der Qualifizierung in der hausärztlichen Versorgung zu erreichen sind.