Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW

Sexualpädagogik als Grundlage einer zukunftsorientierten HIV-Prävention in Nordrhein-Westfalen

Stand: 15. September 2015

Die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW will mit der Beschreibung der wesentlichen Aspekte und Rahmenbedingungen für die sexualpädagogische Präventionsarbeit den in diesem Bereich tätigen Akteurinnen und Akteuren sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vor Ort eine Orientierungshilfe geben und zur Transparenz gegenüber Entscheidungsträgerinnen und -trägern, Bildungseinrichtungen sowie Bürgerinnen und Bürgern beitragen.

Die Arbeitsgemeinschaft empfiehlt allen in Nordrhein-Westfalen sexualpädagogisch Tätigen, das Grundsatzpapier als Arbeitsgrundlage zu nutzen.

Die gesamte Empfehlung zum Download finden Sie hier (PDF).

Im Folgenden finden Sie die einzelnen Unterpunkte.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI) ist ein gesellschaftliches Klima der Akzeptanz von Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und sexuellen Identität. Auch der Abbau von Diskriminierung und Stigmatisierung der von HIV besonders bedrohten bzw. betroffenen Bevölkerungsgruppen sowie von Menschen mit HIV trägt zum Gelingen der Präventionsarbeit bei. Ein sexualpädagogisch ausgerichteter Präventionsansatz ist geeignet, diesen Anforderungen im Rahmen der Aufklärung und Beratung insbesondere auch der nachwachsenden Generationen Rechnung zu tragen.

Mit der Beschreibung der wesentlichen Aspekte und Rahmenbedingungen für die sexualpädagogische Präventionsarbeit möchte die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW den in diesem Bereich tätigen Akteurinnen und Akteuren sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vor Ort eine Orientierungshilfe geben und zur Transparenz gegenüber Entscheidungsträgerinnen und -trägern, Bildungseinrichtungen sowie Bürgerinnen und Bürgern beitragen.

„Umfassende Sexualaufklärung stattet junge Menschen mit grundlegendem Wissen und den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werten aus, die es ihnen ermöglichen, ihre Sexualität physisch und emotional, allein und innerhalb von Beziehungen selbst zu bestimmen und mit Freude zu erfahren. Sie betrachtet Sexualität als ganzheitliches und in die emotionale und soziale Entwicklung eingebettetes Phänomen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Information alleine nicht ausreicht. Junge Leute sollten die Möglichkeit erhalten, grundlegende Kompetenzen zu erwerben und positive Einstellungen und Werte zu entwickeln“ (IPPF, 2006, S. 6).

Neben der Unterstützung von Menschen in ihrer sexuellen Entwicklung, stellen die Sexualpädagoginnen und -pädagogen auch anderen Fachkräften, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in der Sexualaufklärung tätig sind, ihr Know-how zur Verfügung. Sexualpädagogische Angebote sind eine wichtige Ergänzung, aber kein Ersatz für die Sexualerziehung im Elternhaus und in der Schule.

Sexualpädagogik knüpft an Lebensrealität und Lebenswelt der unterschiedlichen Zielgruppen an. Alle Fragen und Erfahrungen, die Teilnehmende bzw. Ratsuchende aus ihrer Lebenswirklichkeit mitbringen, sollen zur Sprache kommen können. Sexualpädagogisch tätige Akteurinnen und Akteure sehen es als ihre Aufgabe sicherzustellen, dass hierbei auch persönliche Grenzen und Haltungen (z.B. unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und kulturellem Hintergrund) sowohl auf Seiten der Teilnehmenden als auch auf Seiten der sexualpädagogisch Tätigen selbst respektiert werden.

Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen nehmen eine grundsätzlich akzeptierende Haltung gegenüber allen Menschen ein, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und sexuellen Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen. Sie berücksichtigen dabei, dass insbesondere Kinder und Jugendliche neben einem besonderen Schutz auch eine besondere Förderung ihrer Entwicklung benötigen.

„Sexuelle Bildung ist eine besonders wichtige Aufgabe zur Förderung der sexuellen Gesundheit. Nur wer Zugang zu Informationen hat, kennt seine Rechte und seine Verantwortung. Und nur wer weiß, wo Hilfe zu finden ist, kann die verfügbare medizinische oder psychosoziale Beratung und Versorgung in Anspruch nehmen. Dieses Wissen ist auch Voraussetzung, um sich bewusst präventiv zu verhalten, Missstände, Probleme, Infektionsrisiken oder auch Zeichen einer Erkrankung zu erkennen sowie Beratungs- und Behandlungsangebote zu finden und wahrzunehmen. Der Zugang zu sexueller Bildung, Beratung und Behandlung ist elementare Voraussetzung für die sexuelle Gesundheit […]" (DSTIG, 2012, S.1).

Sexuelle Bildung ist ein lebenslanger Prozess, der durch sexualpädagogische Angebote Unterstützung finden kann. Diese Angebote müssen sich am Alter und an den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Teilnehmenden als Einzelpersonen und im Gruppenverband orientieren, aber auch ihre geschlechtliche, sexuelle und kulturelle Vielfalt berücksichtigen.

Wissen, Kompetenzen, Haltungen und Werte werden in vielfältigen Dimensionen vermittelt: Körperliche Aspekte, Fruchtbarkeit und Fortpflanzung, Sexualität, Emotionen, sexuelle Identität und Orientierung, Beziehungen und Lebensstile, Gesundheit und Wohlbefinden, Rechte, ethische Fragestellungen sowie soziale und kulturelle Rahmenbedingungen.

Die Verwendung verschiedener sexualpädagogischer Methoden bei der Vermittlung der Aufklärungs-botschaften stellt sicher, dass möglichst viele Teilnehmende von dem Angebot profitieren können. Auch alte und neue Medien sind relevante Kommunikationsmittel für sexualpädagogische Aufklärungsinhalte. Eine interaktive Herangehensweise fördert die Motivation und Bereitschaft der Teilnehmenden, ihre Wünsche und Bedürfnisse einzubringen. Die Wahl der Methoden orientiert sich unter anderem daran, dass die Teilnehmenden neues Wissen sinnvoll mit praktisch bedeutsamen Zusammenhängen und Handlungen verknüpfen können.

Die Mitwirkung der Teilnehmenden bei Organisation, Durchführung und Bewertung der sexualpädagogischen Präventionsarbeit trägt zur Sicherung der Qualität und Lebensnähe der Angebote bei.

"Sexualaufklärung unterstützt und fördert die psychosexuelle Entwicklung des Menschen. Dies bedeutet, Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken zu können, Sexualität lustvoll zu erfahren und seine sexuelle und geschlechtliche Identität auszubilden" (WHO & BZgA, 2011, S. 31). Ziele sind ein selbstbestimmter, selbstbewusster und verantwortungsbewusster Umgang mit der eigenen Sexualität und die Achtung der Würde anderer Menschen.

Sexualpädagogische Angebote bieten die Möglichkeit der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität. Teilnehmende erwerben Wissen und werden in ihren kommunikativen Kompetenzen gestärkt, damit sie eigenverantwortliche Entscheidungen über ihre Sexualität und ihre Gesundheit treffen und kommunizieren können.

Mit einer sexuell übertragbaren Infektion kann sich grundsätzlich jeder sexuell aktive Mensch trotz der Nutzung von Kondomen anstecken.

"Jugendliche gehören, was HIV betrifft, insgesamt nicht zu den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Da sie am Anfang ihrer sexuellen Aktivität stehen, sind sie jedoch eine wichtige Zielgruppe für die HIV-Primärprävention" (Landeskonzept zur Weiterentwicklung der HIV/AIDS-Prävention in Nordrhein-Westfalen, MGEPA NRW, 2013, S. 21). "Bestimmte Gruppen haben darüber hinaus ein erhöhtes HIV-Infektionsrisiko:

  • weibliche und männliche Jugendliche, die in schwierigen sozialen Verhältnissen leben
  • weibliche und männliche Jugendliche, die Drogen konsumieren
  • sowie männliche Jugendliche im Coming out" (a. a. O., S. 22)

Die Sexualpädagogik fördert die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensweisen und Lebensstile, unabhängig von der sexuellen Orientierung und sexuellen Identität der Menschen. Sie fördert eine positive Einstellung gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt und trägt damit auch zum Abbau der Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen bei.

Die HIV/STI-Prävention kann langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn die Themen HIV und STI weiter enttabuisiert und die Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV und AIDS abgebaut wird. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, dass die in der Sexualpädagogik tätigen Akteurinnen und Akteure die nachwachsenden Generationen in ihrer Auseinandersetzung mit HIV und STI kompetent unterstützen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Akzeptanz der von HIV besonders betroffenen Gruppen und zum Abbau von Diskriminierung von Menschen mit HIV und AIDS leisten. Hier müssen Erkenntnisse aus der aktuellen Präventionsforschung Berücksichtigung finden und vermittelt werden.

Moderne Medien sind häufig genutzte Informationsquellen. Sexualpädagogik unterstützt die Entwicklung einer differenzierten Einschätzung neuer Kommunikationsformen und erhöht die Handlungskompetenz im Umgang mit den neuen Medien.

An der Sexualaufklärung sind viele Institutionen und Einrichtungen beteiligt: Schulen und andere Bil-dungseinrichtungen, Freie Träger und Öffentlicher Gesundheitsdienst in den Feldern HIV-/STI-Beratung, Sexualberatungsstellen, Schwangerenberatungsstellen, Jugendberatungsstellen, die offene Jugendarbeit, Jugendverbände, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und in Nordrhein-Westfalen insbesondere auch Youthworkerinnen und Youthworker, die sexualpädagogisch orientierte HIV/STI-Aufklärung für Jugendliche durchführen.

Nur die enge Zusammenarbeit aller Beteiligter ermöglicht die Gestaltung eines kontinuierlichen Prozesses. Werden Angebote durch mehrere Akteurinnen und Akteure gestaltet, haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, viele vorhandene Unterstützungsstrukturen kennenzulernen, die sie bei späterem Informations- und Beratungsbedarf aufsuchen können.

Eine differenzierte fachliche und methodische Qualifizierung der Fachkräfte unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen, eine enge Vernetzung der Angebote mit kontinuierlichem fachlichen Austausch sowie die Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Denkens und Handelns sind Basis für die Sicherstellung der hohen Qualität sexualpädagogischer Arbeit.

Den grundsätzlichen rechtlichen und fachlichen Rahmen für die Sexualpädagogik in Nordrhein-Westfalen bilden insbesondere

  • die im Grundgesetz  für die Bundesrepublik Deutschland garantierten Grundrechte, hier insbesondere Artikel 1 (Menschenwürde), Artikel 2 (Allgemeine Handlungsfreiheit, Freiheit der Person) und Artikel 3 (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Diskriminierungsverbote)
  • Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW - SchulG) vom 15. Februar 2005, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.06.2015, hier insbesondere § 33 Sexualerziehung
  • Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen vom 30.9.1999
  • Runderlass des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen vom 12.6.2012 zu HIV/AIDS-Aufklärung in den Schulen
  • Landeskonzept zur Weiterentwicklung der HIV/AIDS-Prävention in Nordrhein-Westfalen, MGEPA NRW 2013
  • Standards für die Sexualaufklärung in Europa, herausgegeben vom WHO-Regionalbüro für Europa und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2012

Dass sowohl Sexualpädagogik im weiteren Sinne als auch HIV/STI-Prävention im engeren Sinne wirksam ist, belegen zahlreiche Studien.

So zeigt sich beispielsweise im europäischen und internationalen Vergleich, dass Deutschland mit 16 Schwangerschaften pro 1.000 Frauen zwischen 15 und 19 Jahren im Vergleich zu Schweden (25 pro 1.000), England/Wales (47 pro 1.000) oder gar den USA (84 pro 1.000) eine ausgesprochen niedrige Rate von Schwangerschaften Minderjähriger aufweist (BZgA, 2009, S 23).
Auch die Nutzung von Verhütungsmitteln beim ersten Geschlechtsverkehr hat sich deutlich verbessert: „Die Zahl der nicht verhütenden Mädchen und Jungen ist [2009] mit jeweils 8% der niedrigste bisher gemessene Wert und weit von den Ausgangswerten des Jahres 1980 (Mädchen: 20%, Jungen: 29%) entfernt“ (BZgA, 2011, S. 4).

Jugendliche und Erwachsene, die von der schulischen und außerschulischen HIV-Prävention erreicht wurden, sind deutlich besser über HIV informiert und verfügen über einen sichereren Umgang mit Menschen mit HIV in Alltagssituationen als ältere Generationen (BZgA, 2014, S. 5 und S. 7). „Das Interesse am Thema HIV/AIDS ist insbesondere bei der nachwachsenden Generation, den 16- bis 20-jährigen Jugendlichen, weiterhin hoch“ (BZgA, 2015, S. 6).

„Das Schutzverhalten bei spontanen Sexualkontakten ist in den letzten Jahren weiter angestiegen. Im Jahr 2014 gaben zwei Drittel der Befragten (65%) an, bei spontanen Sexualkontakten immer Kondome verwendet zu haben. 2009 lag ihr Anteil noch bei 54 %. Auch bei Sexualkontakten mit unbekannten Partnern oder Partnerinnen im Urlaub entwickelte sich die konsequente Kondomnutzung positiv“ (BZgA, 2015, S 6)

BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Ed.)) (2009): Schwangerschaft und Schwanger-schaftsabbruch bei minderjährigen Frauen, Köln, S.23

BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (2011): Jugendsexualität. Fokus Verhütung. Sonderauswertung der repräsentativen Studie Jugendsexualität 2010. Köln, S. 4

BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (2014): Wissen und Einstellungen der Bevölke-rung zu den Infektionsrisiken mit HIV im Alltag - Ausgewählte Ergebnisse einer repräsentativen Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln im Rahmen der Welt-AIDS-Tags-Kampagne 2014, Köln, S. 5 und S. 7

BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Ausklärung) (2015): AIDS im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik Deutschland 2014. Köln, S. 6

DSTIG (Deutsche STI-Gesellschaft) (2012): Sexuelle Gesundheit. Definition und Positionierung der Deutschen STI‐Gesellschaft. Freiburg, 2012, S. 1 (dstig.de, Abruf: 19.08.2015)

IPPF (The International Planned Parenthood Federation) (2006): Framework for comprehensive sexuality education. London, S. 6 (Übersetzung aus: World Health Organisation-Regionalbüro für Europa und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Köln, 2011, S. 23)

MGEPA NRW (Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter NRW) (2012): Weiterentwicklung der HIV/AIDS-Prävention in Nordrhein-Westfalen. Schwerpunkt "Neuinfektionen minimieren". Düsseldorf

WHO & BZgA (World Health Organisation-Regionalbüro für Europa und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Köln, S. 31