Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW

Empfehlung zur Sekundärprävention: Diskriminierung, Stigmatisierung, Management

Die Lebenssituation von Menschen mit HIV hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Trotzdem spielen Diskriminierung und Stigmatisierung im Alltag HIV-Positiver immer noch eine erhebliche Rolle. Dies bleibt nicht ohne Folgen: Diskriminierung in der Arbeitswelt kann zu sehr belastenden Situationen bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle führen. Menschen mit HIV vermeiden notwendige Besuche ärztlicher Praxen. Es besteht die Gefahr, dass diskriminierende Vorstellungen der Gesellschaft verinnerlicht werden, was zu einem geringen Selbstwertgefühl und zum Rückzug aus sozialen Bezügen führen kann. Und nicht zuletzt: Die Angst vor Diskriminierung hält Menschen davon ab, einen HIV-Test zu machen.


Aktiv gegen Diskriminierung

Das Ziel der Sekundärprävention ist es, negative Folgen einer HIV-Infektion sowie eine Erkankung zu vermeiden. In der Empfehlung zum Thema Spätdiagnosen hat die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention Handlungsmöglichkeiten zur Vermeidung von Spätdiagnosen aufgezeigt. Die Empfehlung zum Thema "Sekundärprävention: Diskriminierung - Stigmatisierung - Management" beleuchtet nun die Handlungsfelder, in denen die örtlichen Haupt-Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention in der Freien Trägerschaft und den Kommunen aktiv gegen Diskriminierung werden können.

Die gesamte Empfehlung mit allen Literaturangaben finden Sie hier (PDF).

2013 wurde das Landeskonzept zur Weiterentwicklung der HIV/AIDS-Prävention in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Darin haben die relevanten Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention, vertreten durch die Kommunalen Spitzenverbände, die Freie Wohlfahrtspflege NRW und das Gesundheitsministerium des Landes, gemeinsam für die Sekundärprävention folgende Ziele festgelegt:

  • HIV-infizierte und AIDS-kranke Menschen vor Ausgrenzung und Diskriminierung bewahren,
  • die ärztliche, pflegerische und psychosoziale Versorgung und Betreuung von Menschen mit HIV und AIDS in das bestehende Regelversorgungssystem integrieren und – sofern fachlich angezeigt – notwendige Schwerpunkte setzen.

Gemäß den Schätzungen des Robert Koch-Institutes (RKI) leben in Nordrhein-Westfalen Ende des Jahres 2016 rund 19.200 Menschen mit HIV oder AIDS. Etwa 15.700 sind männlich, etwa 3.500 weiblich. Folgt man den bundesweiten Schätzungen des RKI, wissen etwa 86 Prozent von ihrer Infektion. Von den Diagnostizierten erhalten ebenfalls etwa 86 Prozent eine antiretrovirale Therapie. Bei etwa 93 Prozent der Behandelten ist kein HI-Virus mehr im Blut nachweisbar. Die Mehrheit der Menschen, die mit HIV leben, ist erwerbstätig.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass jeder besondere Umgang mit Menschen mit HIV, nur aufgrund ihrer HIV-Infektion, unabhängig von ihrem Behandlungsstatus und ihrer Viruslast, eine Diskriminierung darstellt.

In einer repräsentativen Befragung gibt die Mehrheit der Bevölkerung 2017 zwar an, in Bezug auf das Thema HIV/AIDS keine Berührungsängste zu haben, im alltäglichen Umgang mit HIV-positiven Menschen bestehen bei Teilen der Befragten jedoch immer noch Unsicherheiten. Diese manifestieren sich mitunter in Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Ablehnung. Bedenken und Sorgen zeigen sich besonders stark, wenn es zum direkten (Körper-)kontakt kommt.

"Während die Übertragungswege von HIV in der Allgemeinbevölkerung bekannt sind, ist das Wissen zu aktuellen Behandlungsmöglichkeiten teilweise noch unvollständig. 81 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass dank der HIV-Medikamente ein langes und beschwerdefreies Leben mit einer HIV-Infektion möglich ist. Dennoch ist aus Sicht der Bevölkerung eine HIV-Infektion nach wie vor eher keine "normale" chronische Krankheit, wie z.B. Diabetes."

Spätestens seit 2008 wird öffentlich kommuniziert, dass Menschen mit HIV, deren Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt, HIV nicht übertragen können. Auch aktuelle Studien, die auf der Internationalen AIDS-Konferenz 2018 präsentiert wurden, können dies sowohl für heterosexuelle als auch für schwule Paare eindrucksvoll belegen. Der Präventionsaspekt dieser Faktenlage konnte bisher nur zu einem kleinen Teil als Botschaft in die Bevölkerung kommuniziert werden: So weiß in Deutschland nur jede*r Zehnte, dass eine wirksame antiretrovirale Behandlung einen Schutz vor einer HIV-Übertragung darstellt. Auch das antidiskriminierende Potential der von der Internationalen AIDS-Gesellschaft bereits 2017 ausgehenden weltweiten Kampagne "U = U: Undetectable = Untransmittable" (N = N: Nicht messbar = Nicht übertragbar), die Menschen mit HIV ermutigen will, Scham und Angst abzulegen, an der Gesellschaft teilzuhaben, ihre Sexualität zu leben und Kinder zu bekommen, wird in Deutschland derzeit noch wenig genutzt.

Wenig förderlich ist auch, dass in der öffentlichen Kommunikation HIV und AIDS häufig synonym benutzt werden, was das Verständnis für die Entwicklungen der vergangenen Jahre im Bereich der HIV-Infektion einerseits und der Erkrankung AIDS andererseits sicherlich nicht erleichtert.

Die Lebenssituation von Menschen mit HIV hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die folgenden Beispiele aus Studien, erfassten Beschwerden und Erfahrungsberichten Betroffener machen jedoch deutlich, dass Diskriminierung und Stigmatisierung im Alltag HIV-Positiver immer noch eine erhebliche Rolle spielen:

  • Ausgrenzung, Beleidigungen und körperliche Gewalt im sozialen Umfeld
  • Diskriminierungen in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung (zum Beispiel: Letzte Termine bei chirurgischen Eingriffen, auch in Universitätskliniken, Kennzeichnung der Patient*innen-Mappe mit HIV)
  • Verletzungen der Schweigepflicht und des Datenschutzes im Bereich der (zahn-)ärztlichen ambulanten und stationären Versorgung, der Geflüchteten-Einrichtungen und der Schwangerenversorgung
  • Diskriminierungen im Bereich Arbeit (zum Beispiel: HIV-Test als Teil der Einstellungsuntersuchung bei Flugbegleiter*innen, Verweigerung einer Weiterbildungsmaßnahme durch ein JobCenter)
  • Verwendung von ANST(ansteckend)-Vermerken in polizeilichen Informationssystemen auf Bundes- und fast ausnahmslos auf Landesebenen im Falle des Vorliegens weiterer polizeilich relevanter Eintragungen
  • Verwendung der für alle Vollzugsbediensteten zugänglichen Eintragung "Infektionsgefahr bei Blutkontakt" im EDV-gestützten Buchhaltungs- und Abrechnungssystem im nordrhein-westfälischen Strafvollzug (BASIS-Web)
  • Existenz von Listen "Gefangene mit aktuellen Warnhinweisen: HIV-positiv" sowie Ausschluss von Tätigkeiten in Küche und Hauswirtschaft in einzelnen Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen

Die Diskriminierungserfahrungen von Frauen und Männern unterscheiden sich: So erleben Frauen signifikant häufiger Beleidigungen und körperliche Bedrohungen. Auch Gesundheitsdienste werden ihnen häufiger verweigert als Männern. Frauen berichteten häufiger vom Verlust oder der Verweigerung einer Arbeitsstelle aufgrund von HIV. Hinzu kommen bei Frauen Diskriminierungen im Bereich der Reproduktion (zum Beispiel Abraten von der Realisierung eines Kinderwunsches, Nötigung zu Abtreibung oder Sterilisation), wobei aus den Daten meist nicht hervorgeht, ob diese Ereignisse schon länger zurückliegen, beziehungsweise ob sie in Deutschland oder dem Ausland geschehen sind.
Insgesamt muss beachtet werden, dass Diskriminierungen und Stigmatisierungen nicht nur HIV-bezogen erfolgen, sondern auch bezogen auf weitere (angenommene) Lebens- und Arbeitssituationen, insbesondere bezogen auf die sexuelle Orientierung, den Migrationshintergrund, den Drogengebrauch oder die Ausübung von Sexarbeit.

Diskriminierung und Stigmatisierung bleiben nicht ohne Folgen: Diskriminierung in der Arbeitswelt kann zu sehr belastenden Situationen bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle führen. Menschen mit HIV vermeiden notwendige Besuche ärztlicher Praxen. Es besteht die Gefahr, dass diskriminierende Vorstellungen der Gesellschaft verinnerlicht werden, was zu einem geringen Selbstwertgefühl und zum Rückzug aus sozialen Bezügen führen kann.

Die Diskriminierung von Menschen mit HIV ist in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern festzustellen. Mit Blick auf die Handlungsschwerpunkte der Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW fokussieren die Empfehlungen vor allem jene Felder, die von den örtlichen Haupt-Akteur*innen der HIV/AIDS-Prävention in der Freien Trägerschaft und den Kommunen zielgerichtet angegangen werden können.

Besonders dringlich sind Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Arbeit (betriebliches Gesundheitsmanagement), Kinderbetreuung und schulische Bildung sowie Senior*innenarbeit und Pflege. Gehandelt werden sollte hier auf sechs Ebenen

  • Prävention von Diskriminierung
  • Beratung und Unterstützung der von Diskriminierung und Stigmatisierung Bedrohten und Betroffenen im Einzelfall
  • Dokumentation von Diskriminierungen
  • Förderung von Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbsthilfe von Menschen mit HIV
  • Sektorübergreifende Vernetzung
  • U = U: Undetectable = Untransmittable | N = N: Nicht messbar = Nicht übertragbar

Die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW begrüßt die vermehrten Aktivitäten der staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen in den Bereichen Fortbildung von Multiplikator*innen und der Fachberatung von Menschen in der Arbeitswelt. Auch die Youthworker*innen tragen im Rahmen ihrer Tätigkeit für nachwachsende Generationen einen wesentlichen Teil zu einem verbesserten gesellschaftlichen Klima für Menschen mit HIV bei.

Die Erfahrung zeigt, dass auch nach Fortbildungen von Multiplikator*innen und Einrichtungen Unsicherheiten im Alltag bestehen bleiben. Deshalb sollte am Ende entsprechender Veranstaltungen immer darauf hingewiesen werden, welche Organisationen auch bei künftigen Fragen zur Verfügung stehen. Auf dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung von Menschen mit HIV ist die Fachberatung und Fortbildung in den Bereichen Senior*innenarbeit und Pflege besonders wichtig.

Bezüglich des Handlungsfeldes Arbeit schließt sich die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW der Empfehlung der Landeskommission AIDS zum Umgang mit Menschen mit HIV/AIDS in der Arbeitswelt an und unterstützt im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Verbreitung der Empfehlung.

Für den Bereich Gesundheit empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft, eine gemeinsame Aktion der in den kommunalen Gesundheitskonferenzen vertretenen Akteur*innen  zu initiieren, die öffentlich und innerhalb der vertretenen Strukturen auf örtlicher Ebene für folgende Ziele eintritt:

  • Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften im Umgang mit Patient*innen mit HIV
  • Einhaltung der Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes im Umgang mit Patient*innen mit HIV
  • Beförderung produktiver Ansätze einer diskriminierungsfreien Versorgung

Damit Menschen, die von Diskriminierung oder Stigmatisierung bedroht oder betroffen sind, Beratung finden, müssen Unterstützungsstellen für sie erkennbar und leicht zugänglich sein. Druckmedien und Internetpräsenzen der Aidshilfen und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sollten auf bestehende Angebote explizit hinweisen.

Wie jedes Beratungsangebot bedarf auch Antidiskriminierungsberatung der fachlichen Vorbereitung und Weiterentwicklung: Die Reflexion der Haltung der Beratenden zu verschiedenen Formen der Diskriminierung, die Auseinandersetzung mit den Grundsätzen und Abläufen der Beratung, die Prüfung der Handlungsoptionen der beratenden Institution sowie die Entwicklung von Kooperationen. Der Leitfaden zur Antidiskriminierungsberatung in Aidshilfen bietet hierfür eine gute Orientierung.

Können Akteur*innen keine entsprechende Beratung anbieten, empfiehlt sich die Weiterverweisung an geeignete Kooperationspartner*innen oder die Kontaktstelle HIV-bedingte Diskriminierung.

Sprechen Menschen mit HIV Angst vor Diskriminierung an, ist es hilfreich, die Ängste zu konkretisieren und gemeinsam mit den Betroffenen Reaktionsmöglichkeiten zu besprechen. Halten Befürchtungen Menschen mit HIV von Kontakten ins Versorgungssystem ab, kann ein Vorgespräch der beratenden Stelle mit der Versorgungsstruktur nützlich sein, um mögliche Diskriminierung zu vermeiden.

Die Akteur*innen sollten Menschen mit HIV vermitteln, dass sich das gesellschaftliche Klima deutlich verbessert hat, dass dies aber Diskriminierungserfahrungen nicht ausschließt.

Da die Beteiligung an Selbsthilfe das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung von Menschen mit HIV fördert, befürwortet die Arbeitsgemeinschaft die aktive Unterstützung von Selbsthilfebestrebungen. Auf bereits bestehende Möglichkeiten des Austausches, der Beteiligung und des Engagements vor Ort sowie auf Landes- und Bundesebene sollte hingewiesen werden.

Eine interessante Perspektive bieten in diesem Zusammenhang auch Workshops für Menschen mit HIV zum Umgang mit Diskriminierung im Alltag.

Um die Notwendigkeit des Handelns deutlich zu machen und effektive Maßnahmen der Antidiskriminierung zu entwickeln, bedarf es der detaillierten Beschreibung und Auswertung diskriminierender Erfahrungen von Menschen mit HIV. Vorausgesetzt, die diskriminierte Person stimmt zu, empfehlen wir daher die Dokumentation mit dem standardisierten Bogen der Kontaktstelle "HIV-bedingte Diskriminierung". Menschen mit HIV können eine Fallmeldung Diskriminierung – auch anonym – online erstellen.

Strukturelle und langfristige Verbesserungen können in der Regel weder vor Ort noch auf Landesebene durch einzelne Akteur*innen erreicht werden. Wichtig ist daher die Gewinnung von Mitstreiter*innen in den Feldern Antidiskriminierung und Gesundheitswesen. Wichtige Ansprechpartner*innen für die Akteur*innen der Kommunen und der Freien Trägerschaft zur Bildung lokaler und überregionaler Netze finden Sie am Ende der Empfehlung.

Vor allem was die Förderung des Selbstbewusstseins von Menschen mit HIV angeht, aber auch was die Prävention von Diskriminierung betrifft, ist die Kampagne "U = U: Undetectable = Untransmittable | N = N: Nicht messbar = Nicht übertragbar" ein geeignetes Mittel, sowohl bei Menschen mit HIV als auch bei (zukünftigen) Kooperationspartner*innen Aufmerksamkeit für die Forschungsergebnisse der vergangenen zehn Jahre und deren Folgen zu erlangen.

Um eine höhere Wirksamkeit der Kampagne zu erreichen, ist die Einbindung politisch Verantwortlicher als Botschafter*innen von Vorteil. Die entsprechenden wissenschaftlichen Grundlagen, eine große Vielfalt möglicher Gestaltungsformen der Kampagne und entwickelter Materialien hält die Webseite preventionaccess.org/undetectable bereit.

Wichtige Adressen, Materialien und Informationen entnehmen Sie bitte der PDF-Fassung der Empfehlung.