Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW

HIV/STI-Prävention in der Corona-Pandemie: Gewonnene Erkenntnisse

Foto: Eva Blanco Fotografia./photocase.deIn der Veröffentlichung "HIV/STI-Prävention in der Corona-Pandemie: Gewonnene Erkenntnisse" beschreibt die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW die Auswirkungen auf die landesweite Gesamtsituation, würdigt die Leistungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Freien Trägerschaft in der Pandemie und stellt positive sowie negative Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die HIV/STI-Prävention in NRW dar.

Abschließend hat die Arbeitsgemeinschaft vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklungen Fragen und Einschätzungen gesammelt, die die Akteur*innen vor Ort für die Gestaltung zukünftiger Angebote – je nach örtlicher Situation – für ihre Projektentwicklung nutzen können. Den gesamten Text der Veröffentlichung finden Sie zum Download hier (PDF).

Die Corona-Pandemie war für die gesamte Gesellschaft eine besondere Herausforderung. Wir würdigen die enorme Kraftanstrengung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), der als ein wesentlicher Akteur zur erfolgreichen Pandemiebekämpfung beigetragen hat. Viele Kolleg*innen aus dem Bereich "HIV und sexuell übertragbare Infektionen" im ÖGD waren aktiv an der Überwindung der Krise beteiligt.

Die Aidshilfen und die weiteren Freien Träger des Youthworks haben schnell mit der Umstellung und Erweiterung ihrer Angebote reagiert und zu einer Verminderung der Pandemiefolgen beigetragen.

Der Einfluss der Pandemie auf die Angebote der HIV/STI-Prävention, -Beratung, -Testung und Versorgung war regional sehr unterschiedlich: Teils konnten die Beratungs- und Testangebote des ÖGD unvermindert weitergeführt werden. Teils war es möglich, einen reduzierten Umfang sicherzustellen. Meist nur zeitweise, teils aber auch langfristig entfielen Angebote gänzlich. In Regionen, in denen Aidshilfen und andere Freie Träger ansässig sind, konnten diese reduzierte oder fehlende Angebote zumindest zum Teil ersetzen.

Auch wenn die regionale Situation sehr unterschiedlich war, sind landesweit betrachtet deutliche Auswirkungen der Pandemie auf das vorhandene gesamte Angebot der Prävention, Beratung, Testung, Versorgung sowie Selbsthilfeunterstützung erkennbar. Dies zeigen die Daten des Landeszentrums Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG.NRW) 2019 bis 20211, die Ergebnisse der Landesweiten Datenerhebung 20202 sowie die in der Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW zusammengetragenen zusätzlichen Einschätzungen.

Die Daten des LZG.NRW beziehen sich auf in Gesundheitsämtern oder in Kooperation mit Gesundheitsämtern durchgeführte HIV-Tests. Die Daten aus der Landesweiten Datenerhebung beziehen sich auf im ÖGD und in der Freien Trägerschaft durchgeführten Maßnahmen der Prävention, Beratung, Testung sowie Selbsthilfeunterstützung.

Als positive Entwicklungen können verzeichnet werden:

  • Die Zahl der Beratungskontakte ist im Vergleichzu den Vor-Pandemie-Jahren angestiegen. Ebenso konnten mittels der Beratung deutlich mehr Personen pro Jahr erreicht werden.
  • Die Entwicklung von Alternativen zur Face-to-Face-Beratung und -Prävention erfolgte mit hoherGeschwindigkeit: Der Anteil der Online-Beratungenverdreifachte sich 2020. Die Zahl der mit Online-Präventionsangeboten erreichten Kontakte vervierfachte sich 2020.
  • Mehrere Freie Träger haben ihr HIV/STI-Testangebot ausgeweitet.
  • Mancherorts konnte das Testangebot durch die Kooperation zwischen Freien Trägern und Öffentlichem Gesundheitsdienst sichergestellt werden.

Als negative Entwicklungen sind für 2020 festzustellen:

  • Mit Beratung deutlich schlechter erreicht wurden i.v. Drogen gebrauchende Menschen, Menschenin der Sexarbeit, Menschen in Haft, Jugendliche und auch die sonstige Allgemeinbevölkerung.
  • Ebenso wurden Menschen mit 50Jahren und älter, Menschen mit HIV, sowie Frauen zu einem geringeren Anteil erreicht alsvor der Pandemie.
  • Die Kontakte in der personalkommunikativen Prävention fielen massiv ab. Besonders betroffen waren hier Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben, sowie Jugendliche.
  • Fachberatungen und Fortbildungen für Multiplikator*innen sowie Menschen in der Arbeitswelt (wie z.B. Fachkräfte der Kranken- und Altenpflege, Hausärzt*innen, Hebammen oder Fachpersonal aus Beratungseinrichtungen) nahmen um rund die Hälfte ab.
  • Die Unterstützung der Selbsthilfe von Menschen mit HIV war nur in einem massiv verringerten Umfang möglich.
  • Im Jahr 2020 sind aus Landesmitteln rund 50 % weniger HIV-Tests durchgeführt worden. (Zu HIV-Tests, die nicht aus Landesmitteln finanziert werden, liegen keine Daten vor.)
  • Die notwendige zunehmend hochschwellige Gestaltung von Testangeboten (z.B. zusätzliche Hygienemaßnahmen, Notwendigkeit der Terminvereinbarung, Zugangskontrollen, teilweise Einschränkung des Umfangs der Angebote, teilweise Aussetzung von zugehenden Maßnahmen) beeinflusste den Zugang einzelner Zielgruppen, so zum Beispiel i.v. Drogengebrauchende, Menschen in der Sexarbeit und Menschen mit Einwanderungserfahrung.
  • Es existieren ernstzunehmende Hinweise darauf, dass sich die Situation marginalisierter Gruppen in der Pandemie weiter verschärft hat. Der Verlust von Arbeit und anderen Einkommensquellen (z.B. aus Betteln oder Pfandsammeln) sowie der Verlust der eigenen Wohnung führten zu existentiellen Notlagen und psychischen Destabilisierungen.
  • Ebenso gibt es Anzeichen dafür, dass Menschen mit HIV und anderen schwerwiegenden, teils lebensbedrohlichen Erkrankungen, die über keine (ausreichende) Krankenversicherung verfügen, aber dringend behandlungsbedürftig sind, überdurchschnittlich häufig Beratungsstellen aufsuchten.
  • Durch die zweijährige Auseinandersetzung mit dem Corona-Virus ist das Thema Infektiosität in der Bevölkerung sehr präsent. Es ist denkbar, dass dies zu einer Verstärkung der Stigmatisierung von Menschen mit HIV führt, die ohnehin den Alltag vieler HIV-positiver Menschen beeinflusst.
  • Die Anzahl der Kooperationen der HIV-Beratungsstellen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und der Freien Trägerschaft mit anderen Einrichtungen in naheliegenden Themenfeldern hat seit 10 Jahren erstmals abgenommen.
  • Die hauptamtlichen Mitarbeiter*innen waren infolge der Doppelbelastung durch die Pandemiebekämpfung sowie die Sicherstellung des HIV/STI-Angebotes in der Pandemie in erheblichem Umfang erschöpft. Gleichzeitig hat die Zahl der in der Freien Trägerschaft ehrenamtlich geleisteten Stunden als auch die Zahl der ehrenamtlich tätigen Personen abgenommen.
  • Die Rahmenbedingungen für die HIV/STI-Prävention, Beratung und Testung sowie die Aids-Koordination im Öffentlichen Gesundheitsdienst waren durch die Pandemiebekämpfung zeitweise sehr herausfordernd.
  • Die Ressourcen für die HIV/STI-Prävention, Beratung und Testung sowie die Aids-Koordination im Öffentlichen Gesundheitsdienst waren durch die Pandemiebekämpfung zeitweise sehr eingeschränkt.
  • Durch ausgefallene Spendensammlungen und Events sind viele Freie Träger an der Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit angelangt.
  • 2021 ist eine Verbesserung des Zugangs zu den Zielgruppen festzustellen. Das vorpandemische Niveau wurde jedoch noch nicht erreicht.

Die vom Robert Koch-Institut (RKI) geschätzte Zahl der HIV-Erstdiagnosen in Nordrhein-Westfalen ging im Vergleich zum Vorjahr im Jahr 2020 um 50 auf 630 zurück.

Im Jahr 2020 sind hinsichtlich der Übertragungswege "mann-männlicher Sex", "i.v. Drogenkonsum" und "heterosexueller Sex" bundesweit weniger Diagnosen gemeldet worden als vom Modell des RKI erwartet. Dieser abrupte Rückgang könnte im Zusammenhang mit den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie stehen. Einerseits könnte es zeitweise zu weniger Kontakten und damit auch weniger HIV-Neuinfektionen gekommen sein, andererseits könnten erfolgte Infektionen aufgrund von weniger regelmäßig durchgeführten Testungen schlechter erkannt worden sein. Vor dem Hintergrund seiner Modellierungsberechnungen geht das RKI in Nordrhein-Westfalen von einer Zunahme der Spätdiagnosen bei fortgeschrittenem Immundefekt sowie einer Zunahme der Diagnosen im Stadium Aids aus.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklungen hat die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW Fragen und Einschätzungen gesammelt, die Sie bei der Gestaltung zukünftiger Angebote – je nach örtlicher Situation – für Ihre Projektentwicklung nutzen können.

  1. Konnten Sie in der Pandemie neue Nutzer*innen gewinnen? Ist es sinnvoll, diese Kontakte zu stabilisieren?
  2. Welche neuen Zugangswege, Methoden, Kooperationen sind erfolgreich gewesen? Können Sie diese verstetigen?
  3. Für welche Zielgruppen hat sich der Zugang vor Ort verschlechtert? Auf welchen Wegen lässt sich der Kontakt wieder aufbauen?
  4. Welche Zugangshürden zu Ihren Angeboten mussten aufgrund der Pandemie aufgebaut werden? Sind diese mit Blick auf die aktuellen bundes- und landesrechtlichen Vorgaben noch notwendig?
  5. Online-Angebote waren und bleiben hilfreich. Trotzdem macht sich in Teilen auch eine Online-Müdigkeit breit, und viele Menschen werden mit digitalen Formaten nicht erreicht. Präsenz-Angebote bleiben daher ein wichtiger Teil der Arbeit. Die Kombination digitaler und analoger Kommunikationskanäle in der Beratung sollte konzeptionell weiterentwickelt werden.
  6. Auch die Nutzer*innen müssen die in der Pandemie gelernte Distanz überwinden und Berührungsängste abbauen.
  1. Die Pandemie hat vor allem benachteiligten Zielgruppen (siehe Abschnitt "Negative Entwicklungen") den Zugang zu den Angeboten erschwert. Wie kann der Kontakt wiederaufgebaut werden? Mit welchen Organisationen, die die Zielgruppe vertreten oder eine große Zielgruppennähe haben, können Sie kooperieren?
  2. Zielgruppenspezifische, niedrigschwellige und aufsuchende Angebote für Gruppen, die eine höhere Inzidenz von HIV aufweisen, haben eine hohe Priorität. Die Kooperation mit Trägern anderer Angebote für relevante Zielgruppen ist insbesondere im Bereich Beratung und Testung zielführend.
  3. Wie haben die Zielgruppen die Pandemie erlebt? Welche Angebote schätzen die Zielgruppen jetzt als hilfreich ein?
  4. Welche Kooperationspartner*innen können Sie in Ihrer Arbeit mit Menschen, die in der Pandemie existentiell, physisch oder psychisch destabilisiert wurden, unterstützen?
  5. Die Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV bleiben eine Herausforderung und erschweren den Zugang zu entsprechenden Angeboten. Wie können Sie Ihre Aktivitäten im Bereich Antidiskriminierung und zur Unterstützung der Selbsthilfe von Menschen mit HIV wiederaufnehmen?
  1. Die Reflexion der Pandemiezeit mit Ihren Kolleg*innen hilft, um wieder nach vorne blicken zu können.
  2. Wie können Sie die Ehrenamtlichen in ihrer Organisation sowie interessierte Menschen aus den Zielgruppen aktiv ansprechen. Welche neuen Ziele und Projekte können Sie gemeinsam entwickeln?
  3. Können Sie von in der Pandemie erfolgreichen Vorgehensweisen Ihrer Kolleg*innen etwas übernehmen?
  4. Welche Netzwerke und Kooperationen mit Multiplikator*innen müssen Sie reaktivieren, um die Zusammenarbeit wieder in Gang zu setzen?
  5. Nicht alles muss sofort erfolgen. Auch die schrittweise Überprüfung von Angeboten ist hilfreich.

Verschiedene Fachorganisationen (European Centre for Disease Prevention and Control & World Health Organization, Robert Koch-Institut und UNAIDS) haben bereits im vergangenen Jahr erste Lehren aus der Pandemie gezogen, auf die wir hier gerne verweisen.

Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen: Zusammenfassung der Ergebnisse der HIV-Laboranalytik und HIV-Schnellteste sowie der Syphilistestergebnisse. 2019, 2020, 2021 (unveröffentlicht)

Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW: Im Schatten der COVID-19-Pandemie - Bericht zur HIV/Aids-Prävention in Nordrhein-Westfalen 2019|2020

Deutsche Aidshilfe: positive stimmen 2.0. 2021

Robert Koch-Institut: HIV/AIDS in Nordrhein-Westfalen. Eckdaten der Schätzung. Stand: Ende 2020

Robert Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin 47/2021 vom 25. November 2021

Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW: Empfehlungen zur HIV-Sekundärprävention. Schwerpunkt "Spätdiagnosen". 2017

European Centre for Disease Prevention and Control & World Health Organization: HIV/AIDS surveillance in Europe 2021 (2020 data). 2021

Robert Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin 47/2021: HIV in Deutschland 2020. 2021

UNAIDS: Unequal, unprepared, under threat: why bold action against inequalities is needed to end AIDS, stop COVID-19 and prepare for future pandemic. 2021

(Die entsprechenden Links finden Sie in der PDF zum Download).