Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW

Vorurteile schaden mehr als die HIV-Infektion selber

Deutsche Aidshilfe: Positive Stimmen13. Oktober 2021 - Die Deutsche Aidshilfe und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) veröffentlichen die Ergebnisse der Studie "positive stimmen 2.0".

Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass Diskriminierung und Ausgrenzung die Lebensqualität von Menschen mit HIV heute oft stärker belasten als die medizinischen Folgen der HIV-Infektion selber. So berichten etwa 90% der Befragten, dass sie gut mit der HIV-Infektion leben können und HIV ein Teil von ihnen ist, den sie akzeptieren. Über 50% berichten jedoch, dass Vorurteile gegenüber HIV ihr Leben beeinträchtigen. 

Im Rahmen des partizipativen Forschungsprojekts "positive stimmen 2.0" wurden 2020 knapp 500 Menschen mit HIV im Rahmen des weltweiten People Living With HIV-Stigma Index mittels eines international standardisierten Fragebogens über ihre Erfahrungen mit Stigmatisierung und Ausgrenzung interviewt. Diese Befragung wurde nach dem ersten Projekt „positive stimmen“ 2011 nun zum zweiten Mal in Deutschland umgesetzt. Ergänzt wurde diese Befragung durch eine Onlinebefragung, an der sich knapp 1.000 HIV-Positive beteiligten, sowie Fokusgruppen.

Die Projektbroschüre mit den wichtigsten Ergebnissen und Informationen zum Forschungsprojekt kann über den Shop der Deutschen Aidshilfe bezogen werden. Er liegt in deutsch und englisch vor. Der vollständige Projektbericht mit allen Daten wird in Kürze ebenfalls im DAH-Shop verfügbar sein.

95 Prozent der Befragten geben an, dass sie in den letzten 12 Monaten mindestens eine Diskriminierungserfahrungen erlebt haben. Hierbei spielen Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen eine zentrale Rolle. 56 Prozent der Teilnehmenden an der Onlinestudie berichten von negativen Erfahrungen im Gesundheitswesen in den letzten 12 Monaten vor der Befragung. 33 Prozent berichten hierbei, dass ihre Krankenakte auf Grund des HIV-Status markiert wurde, 21 Prozent berichten über einen besonderen Behandlungstermin (in der Regel am Ende der Sprechstunde) und 10 Prozent der Befragten wurde auf Grund des HIV-Status eine Gesundheitsleistung verweigert. Diese Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen werden von den befragten Menschen mit HIV als besonders belastend beschrieben: "Ich dachte im Gesundheitswesen bin ich gut aufgehoben. Leider ist oft das Gegenteil der Fall. Aussagen + Verhaltensweisen wie 1985, das darf doch nicht sein. Wünsche mir viel mehr neuesten Wissensstand in diesem Bereich". 

Vielen Menschen mit HIV fällt es daher auch heute weiterhin schwer, ihre HIV-Infektion offen anzusprechen – auch im Gesundheitswesen. Etwa ein Viertel legt den Status bei Gesundheitsleistungen normalerweise nicht offen. Etwa 70 Prozent der Befragten in den Interviews stimmen zudem der Aussage zu, dass es insgesamt schwierig ist, von der eigenen HIV-Infektion zu erzählen. 

Neben dem Gesundheitswesen spielen Diskriminierungserfahrungen im Sex- und Beziehungsleben eine bedeutende Rolle für die befragten Menschen mit HIV. So geben 55 Prozent der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten auf Grund von HIV mindestens einmal sexuell zurückgewiesen worden zu sein. Schutz durch Therapie hat hier zwar entlasten gewirkt. Die Daten zeigen jedoch auch, dass die Angst, andere infizieren zu können, trotz stabiler Viruslast unter der Nachweisgrenze noch hoch ist: 33 Prozent der Befragten berichten, dass sie weiterhin Angst haben, andere beim Sex anzustecken. 

Etwa ein Viertel der Befragten in beiden Studien zeigen zudem deutliche Hinweise darauf, dass sie die Diskriminierungserfahrungen verinnerlicht haben und geben an, sich schuldig zu fühlen oder sich dafür zu schämen, HIV-positiv zu sein.

Eine weitere zentrale Erkenntnis ist, dass Menschen mit HIV oft zusätzlich auf Grund weiterer Diskriminierungsmerkmale Ausgrenzung erfahren. 62 Prozent der befragten People of Color berichten von Rassismuserfahrungen und etwa jeder zweite schwule Mann von Homophobie. 

Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit HIV weiterhin alltäglich Diskriminierung und Ausgrenzung erleben und ihre Lebensqualität hierdurch wesentlich negativ beeinflusst wird. Das Projekt "positive stimmen 2.0" hat daher nicht nur das Ziel einer Bestandsaufnshme der Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Es soll vor allem auch dazu beitragen, dass Ausgrenzungserfahrungen künftig seltener erlebt werden müssen und soll daher helfen, den Abbau von Diskriminierung voranzutreiben.

Daher wurden im Rahmen des Projekts partizipativ Forderungen und Handlungsempfehlungen entwickelt, die sich and die unterschiedlichsten Akteur*innen richten, wie z.B. Aidshilfen, Gesundheitswesen, Politik, Medien, Antidiskriminierungsstellen oder Ärztekammern. Diese sollen einen konkreten Beitrag dazu leisten Stigmatisierung und Diskriminierung abzubauen. 

Das Projekt "positive stimmen 2.0" hat partizipativ auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse sieben Forderungen entwickelt. Sie fordern:

  1. Schlechter- oder Nichtbehandlung von Menschen mit HIV beenden!
  2. Daten- und Persönlichkeitsschutz in allen Sektoren des Gesundheitswesens wahren!
  3. Beschwerden schnell und kompetent bearbeiten!
  4. "ANST" in Polizeidatenbanken abschaffen! 
  5. Kriminalisierung der (potenziellen) HIV-Übertragung beenden!
  6. Menschen mit HIV in den Medien und das Leben mit HIV sachgerecht und ohne Stigmatisierung und Diskriminierung darstellen!
  7. Partizipation und Vielfalt in Aidshilfe-Kontexten fördern, Diskriminierung intersektional angehen!


Zur Erläuterung der einzelnen Punkte:

  1. Die Verweigerung einer Gesundheitsleistung ist ebenso wenig hinnehmbar wie eingeschränkte oder nur zu bestimmten Zeiten (z.B. am Ende der Sprechstunde) angebotene Gesundheitsleistungen, besondere Hygienemaßnahmen sind nicht erforderlich.
  2. Immer noch werden Patient*innenakten von Menschen mit HIV markiert oder Menschen ohne Zustimmung der Patient*innen über den HIV-Status informiert (z.B. Putzpersonal in Kliniken). Das muss aufhören, denn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gilt auch für Daten, die eine HIV-Infektion betreffen!
  3. Ärztekammern und Beschwerdestellen müssen schnell und kompetenter Beschwerden in Sachen HIV bearbeiten.
  4. "ANST" ("Ansteckungsgefahr") wird in Polizeidatenbanken als Kürzel bei Menschen mit einer HIV, Hepatitis B oder Hepatitis-C-Infektion gespeichert. Diese stigmatisierende Praxis muss bundesweit abgeschafft werden. Sie trägt nicht zum Schutz der Bediensteten bei.
  5. Die strafrechtliche Verfolgung der (potenziellen) HIV-Übertragung beim einvernehmlichen Sex ist stigmatisierend und schadet der HIV-Prävention. 
  6. Medienschaffende haben eine Pflicht, sich über das Leben mit HIV heute zu informieren, um adäquat berichten zu können.
  7. Partizipation und Teilhabe in Aidshilfen muss auf allen Ebenen ausgebaut werden


Die ausführlichen Forderungen finden sich in der Projektbroschüre unter aidshilfe.de.

Ergänzend zu den Forderungen wurden im Projekt partizipativ siebzehn Handlungsempfehlungen formuliert, die jeweils den verschiedenen Aktionsfeldern zugeordnet wurden. Die ausführlichen Erläuterungen finden sich in der Projektbroschüre, die unter aidshilfe.de bestellt oder heruntergeladen werden kann.


Gesundheitswesen

  1. Ärzt*innen, Pfleger*innen und anderes Gesundheitspersonal sollen besser zu HIV aus- und regelmäßig fortgebildet werden. Das gilt sowohl z.B. für Train-the-Trainer Modelle für Lehrende an Pflegeschulen und anderen Fortbildungseinrichtungen als auch Studiengänge und die Einbindung der Themen in Curricula - über das Thema Hygiene hinaus. Menschen mit HIV sollen in Fortbildungen für Gesundheitspersonal eingebunden werden, Ärtz*innen zur sensiblen Mitteilung der HIV-Diagnose geschult werden.
  2. Besonders unmittelbar nach der Diagniose benötigen Menschen mit HIV kompetente Ansprechpartner*innen. Entsprechende Angebote in Aidshilfen (z.B. Buddyprojekt) sollen flächendeckend ausgebaut werden und eine bessere Verzahnung zwischen psychosozialen Angeboten und medizinischer HIV-Versorgung gewährleistet werden.


Medien

  1. Erarbeitung eines Pressecodex für Medienschaffende durch die Deutsche Aidshilfe, um diese in einer sensiblen und diskriminierungsfreien Berichterstattung zu unterstützen.
  2. Medien-Trainings und Unterstützung für Menschen mit HIV anbieten, damit diese souverän und auf Augenhöhe mit Medienschaffenden kommunizieren können.


Antidiskriminierungsarbeit

  1. Ausbau der bundesweiten Kontaktstelle für HIV-bezogene Diskriminierung und Ansprechpartner*innen für die Antidiskriminierungsarbeit in allen Aidshilfen.
  2. Weiterbildung der allgemeinen Antidiskriminierungsstellen zu HIV.
  3. Patientenbeuftragte des Bundes und der Länder stärker zu HIV und Stigmatisierung sensibilisieren.
  4. Unterstützung einer Musterklage bei Diskriminierung im Gesundheitswesen auf Grundlage des AGG, um Rechtssicherheit zu schaffen.


Aufklärungsarbeit

  1. Nichtübertragbarkeit von HIV unter erfolgreicher Therapie stärker in der Allgemeinbevölkerung bekannt machen. DAH soll BZgA auffordern, das Thema in die Kampagne LIEBESLEBEN zu integrieren.
  2. Menschen mit HIV sollen noch sichtbarer und hörbarer werrden. Aidshilfen sollen sie hierbei verstärkt unterstützen.


Empowerment

  1. Maßnahmen zum Empowerment von Menschen mit HIV ausbauen, z.B. durch Argumentationsworkshops oder Empowermenttrainings.
  2. Selbstvertretung und Selbsthilfe von Menschen mit HIV soll stärker und kontinuierlich gefördert und langfristig gesichert werden.


Sexualität

  1. Die Deutsche Aidshilfe und die Aidshilfen sollen ein ganzheitliches Verständnis von sexueller Gesundheit in den Fokus ihrer Arbeit stellen. Hierfür werden Schulungen für die Mitarbeitenden benötigt. Eine qualifizierte Sexualberatung soll in Aidshilfen ausgebaut werden.
  2. Ausbau der sexuellen Bildungsarbeit in Aidshilfen und Entwicklung von sexualpädagogischen Methoden für die Aidshilfearbeit.


Diversity

  1. Aidshilfe soll diverser und inklusiver werden. Hierzu braucht es Fortbildungen und Diversityrtainings. Menschen mit HIV und ihre Communities müssen eine reelle Chance auf Einstellung und Teilhabe bekommen. Stellenausschreibungen müssen dieses entsprechend berücksichtigen und Mehrsprachigkeit und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ermöglicht werden.


Communities der Menschen mit HIV

  1. Die verschiedenen Communities der Menschen mit HIV sollen ihre Ressourcen und Privilegien reflektieren und solidarisch teilen. Privilegierte Communities mit mehr Macht sollen Ressourcen und Macht abgeben.
  2. Menschen mit HIV sollen alls gesellschaftlichen Zuschreibungen von "Schuld" und eine Trennung in "gute und "schlechte" Positive abwehren - auch innerhalb der eigenen Communities.

Ziel des partizipativen Forschungsprojekts "positive stimmen 2.0" ist es, das Stigmatisierungs- und Diskriminierungserleben von Menschen mit HIV aufzudecken und auf dieser Basis konkrete Forderungen und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Mit dem Projekt wird der weltweite People Living With HIV (PLHIV) Stigma-Index 2.0 in Deutschland implementiert. Basierend auf den Ergebnissen des PHLHIV Stigma-Index (in Deutschland 2011 als "positive stimmen" umgesetzt) wurde er auf der Welt-AIDS-Konferenz 2018 in Amsterdam gelauncht, um die Veränderungen der HIV-Epidemie weltweit zu berücksichtigen und aktuelle Daten zum Leben mit HIV, Stigmatisierung und Diskriminierung zu erhalten. International wird er von den Partner*innen Global Network of PLHIV (GNP+), The International Community of Women Living With HIV (ICW) und UNAIDS getragen. Die Deutsche Aidshilfe (DAH) und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) haben "positive stimmen 2.0" gemeinsam umgesetzt. Das Projekt wurde durch das Bundesministerium für Gesundheit finanziert.

"positive stimmen 2.0" ist ein partizipatives Forschungsprojekt. Im Rahmen der Perr-to-Peer-Befragung haben 33 Interviewer*innen mit HIV 450 Menschjen mit HIV mittels des international standardisierten Fragenbogens des PLHIV-Stigma Index interviewt. Ergänzend haben in einem weiteren Projektmodul 935 Teilnehmer*innen an einer Onlineumfrage teilgenommen. 4 Fokusgruppen mit unterschiedlichen Teilgruppen und Schwerpunkten ergänzten die quantitativen DAten um zusätzliche qualitative Daten.

Mehr Informationen zum Projekt und den Hintergründen sind ausführlich in der Projektbroschüre zu finden, die im Shop der 'Deutschen Aidshilfe auf deutsch und englisch verfügbar ist und auf der Projektwebseite positive-stimmen.de.

Mehr Informationen zum welttweiten PLHIV Stigma Index finden sich auf der Projektwebseite stigmaindex.org.

Die Projektbroschüre mit den wichtigsten Ergebnissen und Informationen zum Forschungsprojekt kann über den Shop der Deutschen Aidshilfe bezogen werden. Er liegt in deutsch und englisch vor. Der vollständige Projektbericht mit allen Daten wird in Kürze ebenfalls im DAH-Shop verfügbar sein.

Weitere Informationen finden sich auf positive-stimmen.de.

 

Kontakt:

Deutsche Aidshilfe e.V.
Heike Gronski
Wilhelmstr. 138
10963 Berlin
heike.gronski@dah.aidshilfe.de