Spotlight: Versorgungspfade für MSM mit Substanzkonsum
Die Landesstelle Sucht NRW und die Aidshilfe NRW haben einen gemeinsamen Infobrief zum Thema „Handlungsfelder für eine zielgruppenspezifische Versorgung von Männern, die Sex mit Männern (MSM) haben, mit problematischem Substanzkonsum in Nordrhein-Westfalen“ veröffentlicht.
Der Infobrief basiert auf den Ergebnissen des fachlichen Austauschs einer interdisziplinären Arbeitsgruppe bestehend aus Vertreter*innen der ambulanten und stationären Versorgung, der Kostenträger, der Selbsthilfe und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Ziel des Austauschs war es, die Versorgungssituation sowie Bedarfe und Anforderungen für zielgruppenspezifische Präventions-, Beratungs- und Behandlungsangebote für Substanzen konsumierende MSM zu erfassen.
Der nun vorliegende Infobrief möchte für die Bedarfe und die doppelte Stigmatisierung, der diese Zielgruppe ausgesetzt ist, sensibilisieren, über bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Angebote in der Praxis informieren und eine fachliche Orientierung geben. Zudem sollen Kreise und kreisfreie Städte sowie Freite Träger zum gemeinsamen Diskurs darüber angeregt werden, die bisherige Versorgungsstruktur zu überprüfen und ggf. weiterzuentwickeln.
Den gesamten Infobrief finden Sie hier. Die einzelnen Unterkapitel des Infobriefs fassen wir im Folgenden zusammen.
Männer, die Sex mit Männern haben, sind eine heterogene Gruppe, die sich zum Teil als schwul oder bisexuell definiert, zum Teil aber auch nicht. Bisherige Studien deuten auf einen im Vergleich zu anderen Männern erhöhten problematischen Substanzkonsum in dieser Gruppe hin. Ein spezifisches Konsummuster, das mit erhöhten Risiken verbunden ist, ist Chemsex. Chemsex bezeichnet den Gebrauch von psychoaktiven Substanzen, die unmittelbar vor dem Sex oder währenddessen konsumiert werden.
Diese erhöhten Prävalenzen von Konsum und möglichen Risikosituationen spiegeln sich nicht in einer höheren Inanspruchnahme von Hilfsangeboten wider. Klassische Suchtberatungsstellen werden oft nicht aufgesucht, da mangelnde Kenntnisse und Sensibilität gegenüber den spezifischen Lebenswelten vermutet werden. Schwulenberatungen oder Aidshilfen, die zum Teil als Anlaufstelle wahrgenommen werden, fehlen wiederum oftmals suchtspezifische Kenntnisse und Angebote. Ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfsangebote thematisieren oftmals den Zusammenhang von Sexualität und Substanzkonsum nicht.
Regional ist es zum Teil bereits gelungen, die Zielgruppe besser zu erreichen. Im Großraum Köln bestehen Angebote und eine Vernetzung zwischen der Salus Klinik in Hürth und der Aidshilfe Köln. Das Suchtselbsthilfe-Netzwerk SHALK NRW konnte Selbsthilfegruppen zum Thema Chemsex etablieren. Diese Angebote und Kooperationen gilt es in Nordrhein-Westfalen auszuweiten.
Männer, die Sex mit Männern haben, gelten als vulnerable Personengruppe mit erhöhten gesundheitlichen Belastungsfaktoren. Dies gilt sowohl in Bezug auf ein erhöhtes Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen als auch in Bezug auf höhere Vulnerabilität für Substanzkonsum. Repräsentative Daten zur Prävalenz von Chemsex liegen nicht vor, auf Grundlage des German Chemsex Survey (Deimel et al. 2018) lassen sich jedoch einige Aussagen über die Gruppe Chemsex praktizierender MSM in Deutschland treffen. Es handelt sich hier um eine Gruppe mit überdurchschnittlich hoher Bildung und überdurchschnittlich hohem Einkommen, die oftmals sehr mobil ist und sich häufig über Dating-Apps verabredet. Chemsex wird meist im privaten Setting praktiziert. Die 30-Tage-Konsum-Prävalenz ist in Vergleich zu anderen Männern zum Teil deutlich erhöht. Die Prävalenz von HIV liegt bei 24,5% und 12% nutzen die PrEP (HIV-Präexpositionsprophylaxe).
Substanzkonsum unter Männern, die Sex mit Männern haben, findet meist im Partykontext (hier v.a. Substanzen wie Amphetamine, Alkohol, Cannabis, Ecstasy, GHB/GBL und Kokain) und/oder im sexuellen Kontext statt (hier v.a. GHB/GBL, Methamphetamin, Mephedron, Ketamin und Kokain).
Konsummotive und –erfahrungen sind äußerst heterogen. Im Partykontext werden in der Forschung werden insbesondere sozial enthemmende und leistungssteigernde Wirkungen, aber auch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe als Motive beschrieben. Im sexuellen Kontext sind ebenso hedonistische Motive wie Leistungssteigerung benannt, aber auch psychische Konsummotive wie die Steigerung des Selbstwertgefühls und das Ausblenden schwieriger Lebenslagen. Zwischen Sexualität und Substanzkonsum besteht oftmals eine enge funktionale Verknüpfung.
Von den Befragten des German Chemsex Survey gaben 11% intravenösen Konsum an (im Chemsex-Kontext „Slamming“ genannt). Davon berichtet ein Großteil, Harm-Reduction-Strategien anzuwenden. Qualitative Daten zeigen jedoch, dass das Einhalten von Safer-Use-Regeln unter Substanzeinfluss Schwierigkeiten bereiten kann, und dass das Teilen von Nadeln zum Teil als Zusammengehörigkeit stiftendes Ritual praktiziert wird.
Der Substanzkonsum unter Männern, die Sex mit Männern haben, ist oft mit sexuellen Risiken und körperlichen wie psychischen Folgen verbunden. Chemsex-Konsummuster gehen gemäß verschiedener Studien einher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, HIV-positiv zu sein, einer höheren STI-Prävalenz, einer höheren Prävalenz an Hepatitis-C-Koinfektionen, einem höheren Ausmaß psychischer Erkrankungen, einem höheren Risiko für Gewalterfahrungen beim Sex und einer erhöhten Suizidalität. Auch soziale Probleme wie zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes oder Konflikte in der Partnerschaft können auftreten. Deutlich weniger problematisiert wird von MSM der Konsum im Partykontext.
Verschiede Erklärungsmodelle für die Ursachen (Ätiologie) eines problematischen Substanzkonsums unter Männern, die Sex mit Männern haben, werden in der Literatur hergeleitet. Eines davon ist das „Minority Stress Model“ (Meyer 2003). Dieses multifaktorielle Modell beschreibt den sogenannten „Minderheitenstress“, den Angehörige einer gesellschaftlichen Minderheit wie MSM erleben, ausgesetzt sind, und welche Folge dieser für psychische Gesundheit haben kann. Erhöhter Substanzkonsum wird hier als dysfunktionale Coping-Strategie beschrieben, die entlastende Funktionen haben und zum Beispiel zum Schamabbau beitragen kann. Ein weiteres Erklärungsmodell ist das der „Syndemie-Produktionen“ (Singer 2009). Hier steht die Wechselwirkung von (Syndemie) von Faktoren im Vordergrund, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken können. Substanzkonsum ist in diesem Modell das Resultat eines längeren Prozesses belastender Faktoren durch die soziale Umwelt.
Um die zielgruppenspezifische Versorgung Substanzen konsumierender Männer, die Sex mit Männern haben, zu verbessern, bedarf es einer Klärung regionaler Zuständigkeiten und interdisziplinärer Kooperationen. Die beteiligten Akteure des Hilfesystems (u.a. Aidshilfen, Drogen- und Suchthilfen, HIV-Schwerpunkpraxen, der Öffentliche Gesundheitsdienst, Schwulenberatungsstellen, Suchtmedizin und Suchtpsychiatrie, sexual-medizinische und psychotherapeutische Praxen sowie die allgemeinmedizinische Versorgung) für das Thema zu sensibilisieren und eng miteinander zu vernetzen. Zu berücksichtigen bei zielgruppenspezifischen Angeboten sind eine akzeptanzorientierte Grundhaltung, die Zusammenhänge von Sexualität und Substanzkonsum, eine differentialdiagnostische Erfassung von psychischen Belastungsfaktoren und Erkrankungen sowie mögliche Gewalt-, Stigmatisierungs-, Diskriminierungserfahrungen.
Analog zu anderen Abhängigkeitserkrankungen bedarf für MSM mit problematischem Substanzkonsum spezifischer Versorgungspfade:
- Prävention und Sensibilisierung
- Beratung und Therapievermittlung
- Akutbehandlung und qualifizierter Entzug
- Medizinische Rehabilitation
- Ambulante (Weiter-)Behandlung
- Selbsthilfe